Bei einem Berlin-Besuch im Herbst 2022 habe ich die halbe Stadt durchquert, um im Zentrum von Pankow die Buchhandlung Pankebuch mit ihrem Schwerpunkt auf Literatur der nordischen und baltischen Länder zu besuchen. Neben Im Kielwasser von Per Petterson habe ich mir einen leicht zu lesenden Roman auf Schwedisch als Vorbereitung auf den nächsten Schwedenurlaub empfehlen lassen: Finns inte på kartan. Auf Deutsch hätte ich das Buch nicht gelesen, weil leichte Frauenromane nicht mein Genre sind und mich sowohl der Titel Wo der Elch begraben liegt als auch das grotesk unpassende Cover der deutschen Ausgabe abgeschreckt hätten. Auf Schwedisch dagegen und zum Sprachtraining war das Buch genau richtig.
Verbannung aufs Land Im Mittelpunkt steht die 23-jährige Frida Fors, die in Göteborg Journalismus studiert und mit ihrem charismatischen, begabten, aber rücksichtslos egoistischen Kommilitonen Peter Engström liiert ist. Während alle anderen für das halbjährige Praktikum eine ihrer Wunschadressen zugeteilt bekommen, erhält Frida zu ihrem Entsetzen statt des ersehnten Platzes bei Aftonbladet, Expressen oder Dagens Nyheter in Stockholm die Zuteilung zur Lokalredaktion des Smålandsbladets in Eksjö, Außenposten Bruseryd:
Varför just hon? Varför skulle Frida Fors komma i den dödeste av alla hålor i hela södra Sverige? Och hur i helvete skulle hon kunna göra „ett bra jobb“ […] på en ort där det aldrig hände någonting? (S. 29)
[Warum gerade sie? Warum sollte Frida Fors im totesten Winkel Südschwedens landen? Und wie zum Teufel sollte sie an einem Ort, an dem nie etwas passierte, „gute Arbeit“ leisten?]
Bruseryd ist alles andere als eine Bullerbü-Idylle: Zunehmende Entvölkerung, leerstehende, verfallende Immobilien und verschwindende Infrastruktur setzen dem Ort schwer zu. Antriebslosigkeit, Hoffnungslosigkeit und Wut auf die Regierung in Stockholm prägen das Klima und bilden den Nährboden für die heutigen Wahlerfolge der rechtsgerichteten Sverigedemokraterna im ländlichen Südschweden. Womit Frida allerdings nicht gerechnet hat, ist der Sturm der Entrüstung über ihren Artikel, der die Missstände ehrlich benennt. Als sie dann auch noch herausfindet, dass die Telefonbuch-Firma Orte unter 100 Einwohnerinnen und Einwohner nicht mehr in ihren Karten verzeichnen will, schlägt die Empörung in Aktivität um, denn Bruseryd mit seinen knapp 90 darf auf keinen Fall auch noch dort unsichtbar werden! Die Nachricht wirkt als Weckruf in dem verschlafenen Ort, in dem es nicht nur äußere Missstände, sondern auch haufenweise persönliche Probleme gibt…
Für jedes Problem eine Lösung Finns inte på kartan ist der Debütroman der 1963 geborenen Göteborger Journalistin, Kolumnistin, Fernseh- und Radiomoderatorin Carin Hjulström aus dem Jahr 2009. Bis heute folgten 16 Romane und Cozy Krimis, darunter vier weitere Bücher mit Frida Fors. Die Idee kam der Autorin, die seit ihrer Kindheit die Sommer in Gammelgarn auf Gotland verbringt, bei ihren Autofahrten zwischen Göteborg und dem Fährhafen Oskarshamn, bei denen ihr die allmählichen Veränderungen in den Dörfern Smålands auffielen. Ebenfalls in den Roman eingeflossen sind eigene Erfahrungen als junge Journalistin.
Der Roman wäre kein Wohlfühlbuch, würden sich am Ende nicht die meisten der vielen Probleme lösen. Warum die aufgeweckte Frida allerdings 280 Seiten braucht, um Peters Charakter zu durchschauen, blieb mir rätselhaft.
Carin Hjulström: Finns inte på kartan. Månpocket 2010 www.alskapocket.se
Statistisch gesehen stirbt weltweit alle zehn Minuten eine Frau oder ein Mädchen durch den Partner oder Ex-Partner, wobei die drei Monate nach der Trennung das höchste Gefahrenpotential darstellen. In Deutschland gab es 2023 laut BKA-Bundeslagebericht 360 Femizide, also Tötungsdelikte aufgrund der Geschlechtszugehörigkeit, Tendenz steigend. In 155 Fällen waren die Täter Partner oder Ex-Partner, in 92 weiteren Familienangehörige.
Deutlich höhere Zahlen weisen Afrika, aber auch Amerika und Ozeanien auf. In Mexiko, wo der Straftatbestand des Femizids 2012 ins Bundesstrafgesetzbuch aufgenommen wurde, sind es zehn pro Tag.
Selten geschehen die Taten ohne Vorlauf. Die US-amerikanische Krankenschwester Jacquelin Campbell hat 1985 eine „Kartografie der Gewalt“ (S. 59) mit 22 Risikofaktoren für häusliche Übergriffe erstellt. Die Vorzeichen nicht erkannt zu haben, ist eine der Ursachen für Schuldgefühle Hinterbliebener.
Eine Akte ersetzen Schuldgefühle, Scham, Trauer und die fehlende Sprache für den Femizid an ihrer Schwester Liliana Rivera Garza am 16.07.1990 ließen auch die mexikanische Schriftstellerin Cristina Rivera Garza jahrzehntelang stumm bleiben. Nach einer Odyssee durch mexikanische Behörden 2019 jedoch, bei der die Ermittlungsakten unauffindbar blieben, obwohl der mutmaßliche Täter Ángel González Ramoz nie gefasst und angeklagt wurde, fasste sie einen Entschluss:
In Zukunft, sage ich mir, während ich versuche, dem Augenblick zu entfliehen, werde ich mich daran erinnern, dass dies der Moment war, in dem ich erkannt habe, dass ich schreiben muss, um diese Akte zu ersetzen, die vielleicht für immer unauffindbar bleibt. (S. 36)
Eine detailreiche Rekonstruktion Mit Hilfe einer Unzahl von „Heften, Notizen, Aufzeichnungen, Collagen, Plänen, Briefen, Kassetten und Kalendern“ (Nachwort, S. 327), außerdem zahlreichen transkribierten, literarisch aufbereiteten Interviews im Freundes- und Familienkreis der 20-jährigen begabten, freiheitsliebenden, lebenshungrigen und umschwärmten Architekturstudentin, rekonstruiert Cristina Rivera Garza deren Persönlichkeit. Sechs Jahre währte die immer wieder unterbrochene Beziehung zu ihrem späteren Mörder, einem von Wut, rasender Eifersucht, Penetranz und Kontrollzwang getriebenen jungen Mann, der so gar nicht zu Lilianas studentischem Freundeskreis in Mexiko-Stadt passte, und von dem sie sich etwa im Mai 1990 endgültig befreite. Viele Fragen bleiben offen, da die kommunikative Liliana sich ausgerechnet in Beziehungsfragen äußerst bedeckt hielt. Ahnte sie die Gefahr? Warum kehrte Liliana immer wieder in die belastende Beziehung zurück? Eine Antwort darauf gibt die US-amerikanische Journalistin und Expertin für häusliche Gewalt Rachel Louise Snyder:
Opfer partnerschaftlicher Gewalt bleiben in der Beziehung, weil sie wissen, dass jede plötzliche Bewegung den Bären provoziert. (S. 235)
Die inzwischen überwiegend in den USA lebende und lehrende, 1964 in Mexiko geborene Soziologin und Historikerin Cristina Rivera Garza gehört zu den wichtigsten Autorinnen ihres Herkunftslands. Für Lilianas unvergänglicher Sommer – der Titel bezieht sich auf ein Zitat von Albert Camus – erhielt sie den Pulitzer-Preis 2024 in der Kategorie Memoiren oder Autobiographie, der seit 2023 vergeben wird.
Ich hätte mir bei den Interviews und Notizen Kürzungen, für die Bilder erklärende Unterschriften gewünscht und streckenweise war mir der Text zu gefühlvoll, wenngleich das aus Sicht der Autorin verständlich ist. Gefallen haben mir die kämpferischen Passagen, die allgemeinen, nüchternen Betrachtungen zum Thema Femizid und besonders die ergreifende Schilderung der lebenslangen Auswirkungen einer solchen Tat auf die Hinterbliebenen.
Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer. Übersetzt von Johanna Schwering. Klett-Cotta 2025 www.klett-cotta.de
In einer Winternacht des Jahres 1900 reißt der Sturm im schottischen Küstendorf Skerry nicht nur Dachschindeln und Schafe weg, fällt Bäume und zerschmettert zwei Boote, er wirft auch einen kleinen, leblos wirkenden Jungen an den Strand. Als der Fischer Joseph ihn am nächsten Morgen findet und durch das Dorf zum Pfarrhaus trägt, werden schlimmste Erinnerungen wach: Vor vielen Jahren verschwand in einer ähnlichen Nacht am Strand Moses, der kleine Sohn der Lehrerin Dorothy, die nach ihrer Ankunft aus Edinburgh immer eine Fremde und Außenseiterin blieb. Er war nachts die Treppe zum Strand hinuntergegangen und spurlos verschwunden. Die einzige Spur war ein zwischen Felsen eingeklemmter Stiefel, den damals ausgerechnet Joseph fand. Die Gerüchte über die Umstände von Moses‘ Verschwinden verstummten nie, denn kurz zuvor hatte man Joseph im heftigen Streit mit Dorothy gesehen, obwohl sich die beiden nach Dorothys Ankunft im Dorf eine Weile für alle sichtbar sehr nahestanden.
Wunschdenken und Vernunft
Da das winterliche Skerry von der Außenwelt abgeschnitten ist und im Pfarrhaus ein lang ersehntes Kind zur Welt kommt, bringt der Pfarrer den geheimnisvollen Jungen bis zur Klärung seiner Herkunft zu Dorothy, die dadurch mit voller Wucht von der Vergangenheit eingeholt wird. Während sie den stummen Jungen aufpäppelt, der ihr in fataler Weise Moses zu ähneln scheint, verschwimmen bei ihr zusehends die Grenzen zwischen Wunschdenken und Vernunft:
In ihrem tiefsten Herzen weiß sie, dass der Junge, der dort oben liegt und schläft, ihr eigener Junge ist, der ihr zurückgegeben wurde, um alles wiedergutzumachen. (S. 264)
Der Wendepunkt In ihrem Debütroman Das Geschenk des Meeres erzählt die britische Autorin Julia R. Kelly von einer verschworenen Dorfgemeinschaft, deren Zentrum der Dorfladen von Mrs Brown ist. Dort und im Wirtshaus wird zwar ständig geredet und kommentiert, aber noch viel mehr verschwiegen und verdrängt. Mit der Ankunft des rätselhaften Kindes setzt sich eine Lawine in Gang, in deren Folge sich nicht nur Dorothy und Joseph, sondern auch die anderen Bewohnerinnen und Bewohner von Skerry endlich der schmerzhaften Vergangenheit und ihrer vermeintlichen oder tatsächlichen Schuld stellen müssen – mit der Aussicht auf Heilung.
Damals und jetzt Die Abschnitte im Buch mit dem von Franziska Neubert wunderbar passend gestalteten Holzschnitt auf dem Cover sind abwechselnd mit „Damals“ und „Jetzt“ überschrieben, jeweils unterteilt in kurze Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven. Stück für Stück werden Geheimnisse gelüftet, Handlungsfäden glaubhaft verknüpft und erscheinen Figuren in verändertem Licht. Neben so tragischen Themen wie Verlust, Trauer, Schuld, Vergebung, Eifersucht, Missgunst, unerfüllte Liebe, glücklose Ehen und häusliche Gewalt, um nur einige zu nennen, standen für mich die weiblichen Charaktere und vor allem das Thema Mutterschaft in vielen unterschiedlichen Facetten im Mittelpunkt. Vor dem stimmungsvollen Hintergrund einer von Naturgewalten beherrschten Landschaft und einer wie ein Chor raunenden Dorfgemeinschaft erzählt Julia R. Kelly mit viel Feingefühl und Empathie eine spannende Geschichte voller Melancholie über Wendepunkte, darüber, was war, und was hätte sein können, und über Dynamiken in einer abgeschotteten Gemeinschaft.
Ich habe den gut geschriebenen, virtuos komponierten und von Claudia Feldmann flüssig übersetzten Roman sehr gerne gelesen und mich bestens damit unterhalten.
Julia R. Kelly: Das Geschenk des Meeres. Aus dem Englischen von Claudia Feldmann. mare 2025 www.mare.de
Drei Mädchen landen am gleichen Tag im gefürchteten Midwatch-Institut für Waisen, Ausreißerinnen und unerwünschte Mädchen: Maggie Fishbone vom Waisenhaus in einem nahen Fischerort als Strafe für angeblich rüpelhaftes Benehmen, Nell Wozniak mit ihrer Ratte Spike, die ihrem Stiefvater zu viel liest, und Sofie Zarescu, die mit ihrer gebrochenen Hand für ihren Zirkus nutzlos geworden ist. Das Internat gilt als unbarmherzig strenge Anstalt und grauenvolle Institution zur Disziplinierung, doch werden die Mädchen ebenso überrascht wie die Leserinnen. Hinter der grauen Fassade verbirgt sich ein höchst abenteuerlicher Ort, dessen wundervolle Leiterin, Miss Mandely, im Gegensatz zum Waisenhausinspektor nichts von Lieblosigkeit, Zwangsmaßnahmen, Haferschleim und Näharbeiten hält:
Ihr seid alle drei willkommen. Ihr seid jetzt hier zu Hause und ich hoffe sehr, dass ihr hier glücklich werdet. Glücklich und äußerst nützlich. (S. 29)
Stattdessen wird Unterricht in Fächern wie Morsen, Tresorknacken, Knotentechniken, Verstecken, Aushecken, Automobilreparatur, Sprachen oder Landkartenlesen erteilt, kurz: „Nützliche Dinge, die jedes Mädchen wissen sollte“, wie sie in Miss Mandelys in Teilen abgedrucktem Ratgeber nachzulesen sind. Diese Fähigkeiten sind für die Schülerinnen unabdingbar für ihre geheimen Undercover-Aufträge:
Wir lösen Rätsel, kämpfen gegen Bösewichte und sorgen für Sicherheit in der Stadt. (S. 77)
Zwar ermitteln zunächst nur die vierte und fünfte Klasse im Fall des „Nachtmonsters“, das die Bewohnerinnen und Bewohner des wohlhabenden Nordviertels in Angst und Schrecken versetzt, aber kaum sind die drei Neuen in die erste Klasse aufgenommen, gibt es Arbeit für die Klassen eins und zwei. Der städtische Bibliothekar Dr. Entwhistle meldet das rätselhafte Verschwinden der Orchideenliebhaberin Miss Fenchurch. Eine dramatische, bisweilen höchst gefährliche Ermittlung mit vielen unerwarteten Wendung beginnt, bei der die Mädchen Mut, Grips, Teamgeist, außergewöhnliche Begabungen und in der Schule erlernte Fähigkeiten beweisen müssen.
Ein überzeugender Kinderkrimi Der Kinderkrimi Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen der australischen Kinderbuchautorin Judith Rossell hat mich gleich in mehrfacher Hinsicht überzeugt. Nach dem überraschenden Einstieg gefiel mir besonders die Teamfähigkeit der sympathischen Mädchen beim Lösen des Falles, die ganz ohne Eitelkeiten, Neid, Mobbing, Eifersucht oder Streitereien kameradschaftlich zum Erreichen des gemeinsamen Zieles kooperieren. Für die Zielgruppe ab etwa zehn Jahren dürfte dagegen die spannende und verwickelte Krimihandlung im Vordergrund stehen, die voller Überraschungen ist. Das laut der Autorin von den 1920er-Jahren in einer US-amerikanischen Großstadt inspirierte Ambiente, angereichert durch unterirdische Geheimgänge und Zeppeline jeglicher Größe, wird in ihren mittels einer App auf dem iPad gezeichneten, zahlreichen größeren und kleineren, wie die Schrift in Blau gehaltenen Illustrationen äußerst lebendig.
Schön zu lesen ist auch, wie die Schülerinnen mit Hilfe von Miss Mandely und ihren Lehrerinnen zu starken, selbstbewussten Mädchen erzogen und auf eine eigenverantwortliche Zukunft vorbereitet werden.
Hoffentlich gibt es bald mehr Fälle mit den sympathischen Midwatch-Detektivinnen für kleine Leserinnen ab etwa neun Jahren, denn das Potential für eine Serie ist zweifellos vorhanden.
Judith Rossell: Midwatch – Schule der unerwünschten Mädchen. Aus dem Englischen von Bettina Obrecht. Penguin junior 2025 www.penguin.de/verlage/penguin-junior
Linn Ullmann, 1966 geborene Tochter der norwegischen Schauspielerin Liv Ullmann und des schwedischen Regisseurs Ingmar Bergman, schreibt seit 1998 sehr besondere Romane und gehört zu den bekanntesten, vielfach preisgekrönten Autorinnen Skandinaviens. Gnade, 2004 auf Deutsch erschienen, über einen todkranken Durchschnittsmann, der seine Frau um Sterbehilfe bittet, gehört zu meinen Allzeit-Lieblingsbüchern.
2015 veröffentlichte sie ihren ersten autofiktionalen Roman, auf Deutsch 2018 unter dem Titel Die Unruhigen, über ihren Vater, in dem sie Themen wie Altern, Erwachsenwerden, Liebe, Tod, Vergessen und Erinnern aus immer neuen Blickwinkeln beleuchtet.
Ebenfalls „Virkelighetslitteratur“ ist Mädchen 1983, Teil zwei der geplanten familienbiografischen Romantrilogie. Hier wagt sich Linn Ullmann an eine überaus schmerzliche Erinnerung, ein „Geschwür“ (S. 19), eine „Scheißgeschichte, die ich eintausend und einmal aus eintausend und eins Gründen verworfen habe“ (S. 56). Paul Berf hat auch diesen Roman mit bewundernswertem Einfühlungsvermögen übersetzt.
Eine Nacht, die niemals endet Gegen den Willen ihrer Mutter reiste die 16-jährige Linn Ullmann im Januar 1983 allein zum Fotoshooting mit dem 44-jährigen Starfotografen A nach Paris, der sie im Herbst zuvor in einem Aufzug in New York angesprochen hatte. Nur Stunden nach ihrer Ankunft lag sie, benebelt von Jetlag, Alkohol und der sexistischen Atmosphäre, aber auch grenzenlos naiv und orientierungslos, in dessen Bett:
Es war eine Nacht, die niemals endete und deren Reichweite ich jetzt, fast 40 Jahre später, zu begreifen anstrebe. (S. 119)
War es Zufall oder Arrangement? Wie konnte sie derart die Orientierung verlieren? Welche Rolle spielte der Schatten der umjubelten Mutter, aus dem sich das Mädchen hinaussehnte, welche die Einsamkeit eines zwischen Norwegen und den USA hin- und hergerissenen Teenagers?
Fast 40 Jahre später, während des Corona-Lockdowns 2020/21, streift die inzwischen gefeierte Schriftstellerin durch den Torshov-Park in Oslo oder zieht sich ins Sommerhaus ihrer Mutter zurück. Sie leidet unter schweren Depressionen, anders und gefährlicher als frühere. Im September 2019 ist ihre „Schattenschwester“ aus Kindertagen plötzlich wieder aufgetaucht und ihre Ängste wachsen exponentiell:
Was geschah mit dem Mädchen in Paris, und wie hat es sich in mir ausgewirkt und wie wirkt es sich weiterhin in mir aus? (S. 207)
Das Foto der jungen Linn Ullmann von damals ist längst verlorengegangen, ebenso wie viele Erinnerungen, die hinter einem „großen Vorhang […] blau, weiß, rot“ (S. 212), den Farben, die immer wieder auftauchen und den drei Kapiteln ihre Überschriften geben, verborgen liegen. Tagebücher gibt es nicht:
Das Vergessen ist größer als die Erinnerungen. (S. 213).
Schwer erträglich, aber literarisch großartig Mädchen, 1983 ist kein bloßer weiterer Debattenbeitrag zu MeToo und keine Anklageschrift. Vielmehr ist es der zutiefst melancholische Versuch einer spiralförmigen Annährung an ein jüngeres Ich, mal brutal, mal zärtlich, verwebt mit literarischen Bezügen zu Autorinnen und Autoren wie Annie Ernaux, Marguerite Duras, Emily Dickinson, Ingeborg Bachmann, Walter Benjamin oder Federico García Lorca. Die fragmentierte Erzählweise passt zum Erinnern an Traumata, doch sind die Sprünge sorgsam arrangiert. Manchmal führt Linn Ullmann wütende Streitgespräche mit dem Mädchen von damals, das im Mittelpunkt stehen, Ziel der Begierde anderer sein wollte und sich dabei verlor, den Spieß jedoch auch gelegentlich umdrehte, indem es erbarmungslos die Verfallszeichen am Körper des schlafenden Mannes unter dem Laken betrachtete, anstatt selbst Fotoobjekt zu sein.
Zwar hat mich Die Unruhigen thematisch noch direkter angesprochen als Mädchen,1983, bei dem ich aufgrund der Heftigkeit immer wieder Lesepausen einlegen musste. Als außergewöhnliche Texte über Schreiben und Erinnerung sind jedoch beide gleichermaßen eindrücklich und empfehlenswert.
Zu Beginn der 1980er-Jahre wächst Sedgewick Kumar, genannt Sedd, bei seinen Großeltern Zacchariassen im ehemals prunkvollen, familieneigenen Berghotel Fåvnesheim im norwegischen Fjell auf. An seine früh aus seinem Leben verschwundene Mutter hat er keine Erinnerung. Weder über sie, noch über seinen indischstämmigen Vater, dem er sein exotisches Äußeres und den Nachnamen verdankt, wollen seine Großeltern mit ihm sprechen, und es braucht viel Geduld und Geschick, ihnen, dem Koch Jim oder dem Bezirksarzt Dr. Helgesen Informationshappen abzuringen.
Auch über eine andere Sache wird im Hotel nicht gesprochen: die ausbleibenden Gäste, die sich dank des Ölbooms vor der norwegischen Küste inzwischen lieber Reisen in den Süden gönnen, allen Modernisierungsanstrengungen, Annehmlichkeiten und der Gediegenheit, auf die man in Fåvnesheim so stolz ist, zum Trotz:
Es gilt, nicht darüber zu sprechen, denn dann gilt es nicht. (S. 333)
Statt der brutalen Realität und den wachsenden Schulden ins Auge zu blicken, öffnet Direktor Zacchariassen die Post nicht mehr und hält, wie auch seine aus Österreich stammende kapriziöse Frau, unbeirrbar den Schein aufrecht. Doch so wenig ihre Panzer die Hummer vor dem Tod im Kochtopf schützen, wenn sie einmal im Bassin des Restaurants gelandet sind, so wenig bewahren die demonstrative Realitätsverweigerung, die Rundum-Sorglos-Hochzeitspakete und die Schutzhülle aus „Klasse und Ordnung“ (S. 34) das etwas verstaubte Familienunternehmen vor dem Ruin.
Eine jugendliche Erzählstimme Dem naiv-altklugen, folgsamen, stets die Formulierungen seiner Großeltern wiedergebenden Sedd, der im Alter von 15 Jahren rückblickend seine Erinnerungen an diese letzten Jahre zu Papier bringt, enthüllen sich die wirtschaftlichen Probleme erst nach und nach, gilt sein Hauptaugenmerk doch den rätselhaften Eltern. Für erwachsene Leser oder Leserinnen verdichten sich dagegen die Alarmzeichen früh. Literarische Anspielungen auf die Ahnungslosigkeit der Titelfigur Cedric aus Der kleine Lord von Frances Hodgson Burnett als vorweggestelltes Zitat oder der Hinweis auf Lillelord von Johan Borgen (1902 – 1979), der wie kein anderer Autor darin „die Lebenslügen und den Selbstbetrug der spätbürgerlichen Gesellschaft“(S. 189) beschrieb, erhärten den Verdacht.
Längst nicht nur eine Tragödie Doch der Roman Ein Hummerleben des 1965 geborenen Norwegers Erik Fosnes Hansen aus dem Jahr 2016, auf Deutsch in der gewohnt vorzüglichen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel 2019 erschienen, ist längst nicht nur eine Tragödie, auch wenn sich die Themen Tod und Vergänglichkeit wie ein roter Faden durch den Text ziehen. Vielmehr schafft der Autor den Spagat zwischen melancholischem Trauerspiel und komödienhaften Szenen voller ironischer Seitenhiebe: auf die Neigung der Norweger zu autobiografischen Texten, ehrgeizige deutsche Sportangler, die Sehnsucht junger Mädchen nach Märchenhochzeiten oder eine Weihnachtsfeier enthemmter Bestatterinnen und Bestatter.
Ein Hummerleben ist ein empfehlenswerter Roman über das Ende einer Ära aus der Sicht eines wortgewandten Teenagers, mehr charakter- als plotzentriert, ruhig, bisweilen Geduld erfordernd, mit feinem Humor erzählt und mit einem furiosen Showdown.
Barbara Kingsolver, 1955 geborene, politisch, sozial und ökologisch engagierte US-amerikanische Autorin, hat neben anderen Auszeichnungen 2023 den Pulitzer Prize für ihren Roman Demon Copperhead bekommen. Nun hat der Verlag dtv in der exzellenten Übersetzung von Dirk van Gunsteren ihren bereits 2018 erschienenen Roman Unsheltered unter dem mehrdeutigen deutschen Titel Die Unbehausten veröffentlicht, ein Buch, das an Aktualität leider noch gewonnen hat.
Die beiden Handlungsstränge sind während der ersten Vorwahlen Donald Trumps 2016, im Roman nur „das Megafon“ genannt, und in den 1870er-Jahren angesiedelt. Verbindend ist der Ort: ein Grundstück in der Gemeinde Vineland, New Jersey, auf dem sich zu beiden Zeiten ein hoffnungslos baufälliges Haus ohne Fundament befindet, für dessen Renovierung Besitzer oder Besitzerinnen unmöglich die finanziellen Mittel aufbringen können.
2016
… wohnt dort seit Kurzem eine typische amerikanische Mittelstandsfamilie, die alles „richtig“ gemacht und sich an alle Regeln gehalten hat, und trotzdem vor dem Ruin steht: die arbeitslose Journalistin Willa Knox, selbsternannte Familienkrisen-Managerin, ihr Mann Iano Voukolies, promovierter Politikwissenschaftler, der nach der Schließung des Colleges in Virginia nun mit einem Einjahresvertrag in Philadelphia unter prekären Umständen lehrt, dessen aus Griechenland eingewanderter, pflegebedürftiger Vater Nick, glühender Trumpist und trotz fehlender Krankenversicherung wütender Verächter sozialstaatlicher Maßnahmen, die rebellische Tochter Tig, Mitte 20, Studienabbrecherin mit Dreadlocks, Konsumverweigerin und nach einem Kubaaufenthalt wieder bei den Eltern eingezogen, und schließlich der Sohn Zeke, arbeitsloser Harvard-Absolvent mit astronomischen Studienschulden und nach dem Selbstmord seiner Frau alleinerziehender Vater des Babys Dusty. Willa droht daran zu zerbrechen, dass der Lohn, den man ihrer Generation für harte Arbeit, Anpassung und Entwurzelung durch karrierebedingte Umzüge versprochen hatte, ausbleibt:
Wie konnte es sein, dass zwei hart arbeitende Menschen, die im Leben alles richtig gemacht hatten, in ihren Fünfzigern praktisch mittellos dastanden? (S. 21)
Ausgerechnet Tig, die Tochter, die immer im Schatten von Willas Vorzeigesohn stand und nun am besten zurechtkommt, erklärt ihrer Mutter die Zeitenwende:
Du und Dad, ihr habt immer geschuftet für dieses größere, schönere, besser bezahlte Leben […] Ich sage, ihr habt euch auf die falsche Zukunft vorbereitet. (S. 417)
In den 1870er-Jahren
… tritt der jungverheiratete Naturkundelehrer Thatcher Greenwood eine Stelle in Vineland an, einer 1861 von dem charismatischen Despoten Charles K. Landis gegründeten utopischen Kolonie, und bezieht das marode Haus seiner Frau. In dem konservativen Städtchen stößt seine Begeisterung für Charles Darwin schnell auf Widerstand, gelten dessen Ideen doch als Ketzertum. Unterstützung findet Thatcher bei seiner Nachbarin, der Naturforscherin Mary Treat, die wie Vineland auf historischen Tatsachen beruht. Sie erklärt ihm:
Wenn die Menschen fürchten, ihre Gewissheiten zu verlieren, folgen sie jedem Tyrannen, der ihnen verspricht, die alte Ordnung wiederherzustellen. (S. 282)
Für beide Protagonisten, Willa und Thatcher, wird Mary Treat zur Hoffnungsträgerin. Thatcher holt sich bei der fortschrittlichen Frau intellektuelle und moralische Unterstützung, Willa hofft, aus deren Lebensgeschichte Kapital zu schlagen.
Wichtig, empfehlenswert, aber wenig subtil Barbara Kingsolver verbindet die exzellent recherchierten Handlungsstränge trotz der Themenvielfalt genial über die maroden Häuser und wechselt kapitelweise die Zeitebene, wobei Stichwörter aus dem Ende des einen zur Überschrift des nächsten werden. Sowohl die Leugnung der Evolution als auch die von Klimawandel und Endlichkeit der Ressourcen bereitet den Boden für Tyrannen. Diese Spiegelung gelingt hervorragend, ebenso wie die erschreckende Zustandsbeschreibung der US-Gesellschaft kurz vor der ersten Trump-Präsidentschaft.
Obwohl ich Die Unbehausten mit großem Gewinn und Zustimmung gelesen habe und die Lektüre durchaus empfehle, haben mich der Streitschriftcharakter, die scharfe Zuordnung der Charaktere zu Gut und Böse ohne überraschende Entwicklungen und die zu deutliche Lenkung der Lesenden nicht zufriedengestellt. Manchen Holzhammer-Satz hätte es nicht gebraucht, dafür mehr Vertrauen in die Leserschaft, beispielsweise wenn Willa resümiert:
Dieses Haus ist wie unser Land – eine Ruine. (S. 609)
Wunderbar ist dagegen, dass Barbara Kingsolver trotz aller Katastrophenszenarien Hoffnung zulässt, die sich aus Humor, Liebe, Zuneigung, Fürsorge, Freundschaft und Erneuerungswillen speist.
Barbara Kingsolver: Die Unbehausten. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. dtv 2025 www.dtv.de
Die ersten Seiten von Speicher 13 scheinen die Genre-Frage eindeutig zu beantworten. Während eines Neujahrsurlaubs in einem namenlosen Dorf in Mittelengland bei Manchester verschwindet die 13-jährige Rebecca Shaw bei einem Spaziergangs durchs Moor mit ihren Eltern. Die Polizei sucht zusammen mit vielen Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohnern in jedem Schuppen, auf jedem Heuboden, in jeder Höhle und stillgelegten Mine, jedem Steinbruch und Speichersee sowie auf sämtlichen Berge der Umgebung – vergebens. Journalisten verfolgen und kommentieren die Suche, das Dorf hält den Atem an:
Es war, als habe sich der Boden aufgetan und das Mädchen mit Haut und Haaren verschluckt. (S. 27)
Aus gutem Grund bezeichnet der Verlag Liebeskind das 2017 für den Booker Prize nominierte, 2018 von Anke Caroline Burger rhythmisch ins Deutsche übertragene Buch auf dem Cover als Roman, geht es doch auf den folgenden etwa 350 Seiten weit weniger um die Auflösung des rätselhaften Vermisstenfalls als um die Entwicklung des Dorfes und der Menschen. In 13 Kapiteln, beginnend jeweils mit dem Jahreswechsel, wird das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner und auf das Dorf mit den 13 Speicherseen und seine Umgebung geblickt:
Wenn man sich umdrehte, konnte man oben aus dem Moor hinunter aufs Dorf blicken: man sah das Buchenwäldchen und den Gemeinschaftsgarten, den Kirchturm und das Kricketfeld, den Fluss und den Steinbruch und das Zementwerk an der Straße, die in die Stadt führt. (S. 10)
Protokoll einer Rückkehr Richtung Normalität In chronologischer Abfolge mit wenigen Absätzen und in minimalistischem Stil protokolliert der 1976 auf den Bermudainseln geborene, in Großbritannien aufgewachsene Autor Jon McGregor mit auktorialer Stimme die großen und kleinen Ereignisse wie Geburten, Krankheiten und Todesfälle, Zuzug, Weggang und Heimkehr, Eheschließungen und Trennungen, erfolgreiche und gescheitete Schulabschlüsse, Streit und Versöhnung, Geschäftseröffnungen und Insolvenzen, häusliche Gewalt, landwirtschaftliche Arbeiten, Straftaten, Feste, Rituale und Bräuche – kurz: alles, was das Leben in einem kleinen Dorf mit sich bringt. Eine besondere Rolle spielen die jahreszeitlichen Veränderungen in der Natur mit faszinierenden Beschreibungen von Flora und Fauna.
Stets präsent, wenn auch sukzessive in den Hintergrund tretend, ist das Rätsel um das verschwundene Mädchen, deren Eltern immer wieder im Dorf auftauchen, aber der Sehnsucht der Dörfler nach Normalisierung zunehmend im Weg stehen und nicht mehr Mr und Mrs. Shaw, sondern stets nur Vater und Mutter des verschwundenen Mädchens sind. Verdachtsmomente tauchen auf und werden fallengelassen, vielversprechende neue Ansatzpunkte laufen ins Leere. In kleinen, interessant zu beobachtenden Schritten erobert sich die Dorfgemeinschaft ihren Alltag zurück, doch vergessen kann man nicht:
Es wurde nicht mehr viel von dem vermissten Mädchen gesprochen, aber es wurde oft an sie gedacht. (S. 331)
Wie die einst von den Speicherseen gefluteten Täler und Dörfer bleibt auch Rebecca in der kollektiven Erinnerung und geistert durch die Träume derer, die ihr Verschwinden miterlebt haben.
Ein fesselndes dörfliches Mosaik Obwohl der Rhythmus des Romans mit seinen Wiederholungen eher monoton ist und ich eine ganze Weile gebraucht habe, um mich und meine (Krimi-)Erwartungen daran anzupassen, bin ich immer mehr zur Dorfbewohnerin geworden. Als solche habe ich die kleinen, mittleren und größeren menschlichen Dramen, Sorgen, Freuden und Enttäuschungen gespannt verfolgt, immer in Habachtstellung, um keinen noch so kleinen Hinweis im Vermisstenfall zu verpassen.
Ein auf innovative Weise mit Genregrenzen jonglierender, überraschender Roman, den ich gerne gelesen habe.
Jon McGregor: Speicher 13. Aus dem Englischen übersetzt von Anke Caroline Burger. Liebeskind 2018 www.liebeskind.de
Über die Sámi, das indigene Volk der Nordkalotte, habe ich seit 2023 mehrere Romane von Angehörigen dieser Volksgruppe gelesen. Von den Kvenen, finnischen Einwanderern in die norwegische Finnmark und ihren Nachfahren, hatte ich dagegen auch bei einer Reise durch Lappland und die Finnmark 2024 bis zu einer Veranstaltung mit der Kvenin Ingeborg Arvola im Rahmen des Gastlandauftritts Norwegens auf der Leipziger Buchmesse 2025 noch nie gehört. Der erste Band ihrer Eismeer-Trilogie mit dem Titel Der Aufbruch ist inspiriert vom Leben ihrer Ur-Urgroßmutter und wurde 2022 mit dem renommierten norwegischen Brageprisen ausgezeichnet.
Nordwärts Der Roman spielt in den Jahre 1859 bis 1862, als viele armen Finninnen und Finnen zur Saisonarbeit an die fischreiche Küste der norwegischen Finnmark zogen, oder dorthin auswanderten:
Vielleicht ist Gehen einfacher als Bleiben […] Es ist nicht leicht in der alten Heimat, wenn der Hunger an die Tür klopft. (S. 374)
Unter denen, die ihr Glück weiter nördlich suchten, war die 35-jährige Brita Caisa Seipajærvi mit ihrem elfjährigen Sohn Aleksi und dem dreijährigen Heikki. Ihr Aufbruch war allerdings nicht nur der Armut geschuldet, sondern auch ihrer Scham und Wut über die gegen sie als ledige Mutter verhängte demütigende Kirchenstrafe. Brita, deren Schönheit ebenso legendär war wie ihre für Tiere und Menschen heilenden Hände, verließ die Bauerngemeinde Sodankylä im finnischen Lappland 1859 in der Absicht, einen soliden Versorger für sich und ihre Söhne zu finden:
Ich brauche keine verheirateten Männer, ich brauche einen Mann zum Heiraten. […] Ein Fischer aus Pykeijä soll es sein. (S. 66)
Wider alle Vernunft Kurz vor Pykeijä, norwegisch Bugøynes, am Varangerfjord, wo ihr älterer Bruder sich niedergelassen hatte, verdingte sie sich vorübergehend als Magd bei Mikkel Aska und seiner Frau Gretha, einem kinderlosen kvenischen Paar mit einem wohlhabenden Hof in Neiden. Entgegen aller Vorsätze verliebte sich die leidenschaftliche Brita in den Hofbesitzer und er sich in sie. Als die bemitleidenswerte, verzweifelte Gretha sie wegen Ehebruchs anzeigte, drohte ihnen bei der für Herbst 1862 anberaumten Gerichtsverhandlung Gefängnis und Mikkel der Verlust seines Hofs. Der um sein Zukunftsversprechen betrogene Aleksi kehrte sich wütend von seiner Mutter ab und viele versuchten, Brita zur Raison zu bringen, doch zu spät:
Mikko sitzt in meinem Herzen wie eine Frühlingsblume im Moor. (S. 188)
Lieder vom Eismeer Der Aufbruch ist die dramatische Geschichte einer verbotenen Liebe zwischen einer willensstarken, unbeugsamen, leidenschaftlichen Frau und einem verheirateten Mann vor dem Hintergrund eines gesellschaftlichen Umbruchs im Schmelztiegel verschiedener Ethnien, Kulturen und Sprachen. Kvenen trafen auf alteingesessene Sámistämme, die um Rentierweiden, Holz, Beeren und Fische kämpften, und norwegische Kaufleute, die sich an der Unwissenheit beider Gruppen bereicherten. Ingeborg Arvola taucht tief in das Alltagsleben der Nordländer ein, beschreibt die Natur, harte Arbeit auf den Höfen und beim Fischfang, Bräuche, Obrigkeit, Religiosität, Aberglauben und die schwelenden Konflikte sowohl innerhalb der Gruppen, als auch gegeneinander, die vor dem Ting häufig mit dem Verlust von Hab und Gut endeten. Die nüchterne Schilderung der harten Lebensbedingungen steht in scharfem Kontrast zu poetischen Naturbeschreibungen und der obsessiven Liebesbeziehung. Nicht Tempo und Action, sondern historische Genauigkeit, glaubhafte Charaktere und viel Atmosphäre prägen den Roman. Herausfordernd sind die zahlreichen Figuren und Orte mit unterschiedlichen Namensvarianten, eine Schwierigkeit auch für die Autorin, wie sie in ihrem Nachwort schreibt.
Ich bin sehr gespannt auf die Fortsetzung der Trilogie, deren Originaltitel Sanger fra ishavet, Lieder vom Eismeer, den Charakter des Textes noch besser treffen.
Ingeborg Arvola: Der Aufbruch. Aus dem Norwegischen von Katharina Martl. btb 2025 www.penguin.de
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Die Übersetzerin Hanna Granz war nach ihrem Studium der Skandinavistik, Romanistik und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Bonn und Greifswald zunächst im Literaturhaus Leipzig tätig. Seit 2012 arbeitet sie als freiberufliche Übersetzerin, vor allem aus dem Schwedischen, aber auch aus dem Norwegischen und Dänischen.
Mir ist Hanna Granz erstmals 2020 als Übersetzerin von Patrick Svensson und seinem Buch Das Evangelium der Aale begegnet, einer Mischung aus autobiografischer Vater-Sohn-Geschichte und Natur- sowie Kulturgeschichte dieses Fisches und den dementsprechend anspruchsvoll zu übersetzenden biologischen Details.
Mit großer Freude habe ich auch die von ihr übersetzten Bücher von Alex Schulman gelesen und weiß, seit ich drei seiner damals noch unübersetzten autobiografischen Romane im Original gelesen habe, wie perfekt sie den Ton dieses von mir sehr geschätzten Autors trifft.
Mein letzter von Hanna Granz ebenfalls sehr einfühlsam ins Deutsche übertragener Roman war Das Echo der Sommer der samischen Autorin Elin Anna Labba.
Liebe Frau Granz, Sie übersetzen vor allem aktuelle Literatur, haben aber auch schon Klassiker von Selma Lagerlöf neu übersetzt. Was ist generell anders bei der Arbeit mit Klassikern? Würden Sie gerne mehr Klassiker übersetzen?
Anders ist natürlich, dass man in eine ganz andere Zeit eintaucht, und entsprechend einen etwas anderen Sprachwerkzeugkasten braucht. Wenn es Neuübersetzungen sind, gibt es Vorgänger:innen, denen man Respekt zollt, von denen man sich aber gleichzeitig absetzen möchte. Es heißt ja, Originaltexte altern nicht, Übersetzungen dagegen schon. Man muss also eine Balance zwischen Zeitkolorit und etwas modernerer Sprache finden, durch die der Text einerseits sicher verortet und andererseits einem heutigen Lesepublikum zugänglicher gemacht werden kann. Das finde ich sehr reizvoll.
Sind Ihre Übersetzungen grundsätzlich Auftragsarbeiten oder haben Sie auch schon Bücher „entdeckt“ und Verlagen vorgeschlagen?
Die meisten sind Auftragsarbeiten – entweder kommen Verlage von sich aus auf mich zu, oder weil Kolleg:innen mich empfohlen haben. Einen eigenen Vorschlag unterzubringen, ist mir bisher nur ein einziges Mal gelungen – oder sagen wir zweimal, beim zweiten aber auf Umwegen und vor allem dadurch, dass jemand wusste, dass ich bereits mit dem Text gearbeitet hatte. Wenn es gelingt, ist das jedes Mal ein Glücksfall.
Lesen Sie die zu übersetzenden Bücher, bevor Sie mit der Arbeit beginnen? Oder lassen Sie sich überraschen?
Ich lese eigentlich immer zuerst das ganze Buch. Erstens, weil ich wissen will, worauf ich mich einlasse. Und zweitens, weil es manchmal einen Twist in der Geschichte gibt, auf den ich beim Übersetzen vorbereitet sein muss – gerade, wenn er sich vorher bereits unterschwellig ankündigt. So etwas muss man meiner Meinung nach vorwegnehmen können, man darf nicht reinstolpern. Und bei der Übersetzung dann weder zu viel gucken lassen, noch etwas unterschlagen – das gelingt nur, wenn man vorher Bescheid weiß.
Bei „Die Überlebenden“ von Alex Schulman gibt es gegen Ende eine überraschende Wendung, bei der ich zurückgeblättert habe, um mich zu vergewissern, dass ich nichts überlesen hatte. Ging es Ihnen bei der Übersetzung ähnlich? Mussten Sie eventuell einzelne Stellen überarbeiten? Waren Sie ebenso überrascht?
Genau, das ist so ein Beispiel! Da war es wichtig, vor dem Übersetzen Bescheid zu wissen. Beim Lesen hat mich die Wendung genauso überrascht wie Sie. Weil ich dann aber vorbereitet war, konnte ich gut damit umgehen, es gewissermaßen innerlich vorbereiten, sodass ich nichts überarbeiten musste.
Bei den Büchern von Alex Schulman kommen einige Szenen immer wieder in leicht abgewandelter Form vor. Mir als Leserin macht das großen Spaß, wie geht es Ihnen damit?
Oh, das freut mich, dass man es auch so sehen kann! Als Übersetzerin liest man sehr kritisch, und ich habe dann oft gehadert und gedacht: Na, Mensch, das hat er doch schon mal geschrieben, das kann ich doch so nicht bringen! – Aber dann habe ich mich erinnert, dass es mir bei Romanen von z.B. Paul Auster auch oft so ging, dass ich beim Lesen Dinge wiedererkannt habe, und dass es da eher wie ein Nach-Hause-Kommen war, etwas Vertrautes. Das ist im Grunde auch das Tolle, wenn man eine:n Autor:in über Jahre immer wieder übersetzt: Man kennt dann seine Welt, in diesem Fall den Schulman-Kosmos, und kann da gleich wieder eintauchen – das schenkt Souveränität und Sicherheit. Darüber hinaus ist man bereits mit dem Ton, mit dem Sound vertraut und kann auch diesen sozusagen wiederaufnehmen. „Endstation Malma“ fällt da vielleicht ein bisschen raus, aber die anderen, die autobiografischen oder autofiktionalen Romane, die haben diesen ganz großen Wiedererkennungseffekt.
Ihre Übersetzung von „Das Echo der Sommer“ hat mir besonders gut gefallen, einerseits wegen der poetischen Abschnitte aus der Sicht eines Sees, andererseits wegen der guten Verständlichkeit bezüglich der Belange der Sámi. Mussten Sie dafür Sekundärliteratur über deren Lebensweise, Geschichte, Politik und Kultur heranziehen? Ist eine solche Zusatzarbeit angesichts des Zeitdrucks bei Übersetzungen und des Seitenhonorars überhaupt möglich?
Gerade bei dieser Übersetzung war es mir aufgrund enormen Zeitdrucks kaum möglich, Extra-Recherchen zu betreiben. Aber ich habe alles versucht und auf die Mittel zurückgegriffen, die mir in der Kürze der Zeit zur Verfügung standen. Zum einen habe ich die Autorin gebeten, mir Fotos zu schicken, um diese Landschaft im Vorher-Nachher wirklich bildlich vor mir sehen zu können. Zum anderen gab es zufällig kurz vor der Manuskript-Abgabe eine Ausstellungseröffnung zu samischer Kultur im Museum europäischer Kulturen in Berlin. Da ging es vor allem um die Frage der Restitution, also, wie man Ausstellungsstücke behandelt, und ob es in manchen Fällen nicht angemessener wäre, sie den entsprechenden indigenen Völkern zurückzugeben – vieles ist ja einfach geraubt worden. Gleichzeitig ist es so wichtig, sich die Dinge anschauen und sich ein Bild von fremden Kulturen machen zu können. Schön für mich war bei dieser speziellen Veranstaltung, dass auch gejoikt wurde, das ist ja auch ein zentrales Element der samischen Kultur und immer wieder Thema im Roman, dass die Sámi ihre Landschaften, ihre Seen und ihr Erleben ganz allgemein singen und dadurch weitergeben. Das war wirklich schön und wichtig, dass ich das auf diese Weise erleben konnte. Und dann wurden im Museum natürlich auch viele Alltagsgegenstände und Kleidungsstücke gezeigt, das hat ebenfalls beim Übersetzen geholfen. Kurz zusammengefasst: Die Zeit ist meist viel zu knapp – aber es wäre toll, so etwas intensiver betreiben zu können, und ich persönlich nutze jede Gelegenheit, um mir lebendige Eindrücke zu verschaffen.
Versuchen Sie, vor, während oder nach der Übersetzungsarbeit Kontakt zu den Autorinnen und Autoren aufzunehmen, soweit sie noch am Leben sind?
Ja, eigentlich immer, und in 95 % der Fälle stehe ich auch tatsächlich in Kontakt mit ihnen. Das ist hilfreich und unheimlich belebend; ein bisschen vielleicht, wie wenn man ein fremdes Kind betreut und sich vorher bei der Mutter/beim Vater über dessen Besonderheiten und Bedürfnisse erkundigt … Man übernimmt ja die Verantwortung für den Text und muss genau wissen, wie er tickt, wie er gemeint ist, was er braucht usw., und ob man bestimmte Signale oder Marker tatsächlich richtig versteht. Es entsteht dabei oft auch ein enges Vertrauensverhältnis, sehr respektvoll und immer bemüht um die Sache. Ich liebe diesen Austausch sehr.
Können Sie neben den genannten drei von Ihnen übersetzte Bücher empfehlen, die Leserinnen und Leser dieses Blogs unbedingt kennenlernen sollten?
Johanne Lykke Holm ist eine besondere Autorin, die ich Ihren Leser:innen gerne ans Herz lege, und wenn man Krimis mag, die ein bisschen mehr sind als bloß Genre-Literatur, dann empfehle ich wärmstens Tove Alsterdal. Ihre Romane haben immer eine wahre Begebenheit in der näheren oder ferneren Vergangenheit als Hintergrund und sind wahnsinnig gut recherchiert – es macht großen Spaß, sie zu übersetzen und zu lesen! Ein sehr erhellendes Buch war aber auch „Die Autistinnen“ von Clara Törnvall. Da habe ich ebenfalls viel gelernt – über die besondere Form des Autismus bei Frauen, aber auch über gesellschaftliche Strukturen und ihre oft einschränkenden Auswirkungen auf den Einzelnen.
Können Sie Übersetzungsaufträge ablehnen, wenn Ihnen die Bücher nicht zusagen?
Ja. Wenn ich z.B. gar keinen Zugang zum Text finde, dann lehne ich Aufträge ab. Manchmal mit Bauchgrimmen, wenn die Auftragslage gerade dünn ist, aber auch hier gilt: Ich habe als Übersetzerin eine Verantwortung, ich muss dem Text gerecht werden können. Und ihn irgendwie mögen, sonst wird es nichts.
Die Kunst des Übersetzens ist nicht nur eine mechanische Aufgabe, sie erfordert auch ein hohes Maß an Kreativität und Flexibilität. Wie finden Sie die Balance zwischen Texttreue, Anpassung kulturellen Nuancen und dem Jonglieren mit verschiedenen Bedeutungen?
Durch Vorstellungskraft, Lebenserfahrung und Lesen in der Ziel-, also meiner Muttersprache Deutsch. Und natürlich, indem ich immer wieder versuche, mir Sprache, Kultur und gesellschaftliche Zusammenhänge im Herkunftsland des Textes zu vergegenwärtigen. Je mehr man eintauchen kann, desto besser; anschließend muss man aber auch auftauchen, einen Schritt zurücktreten und den Text den Gepflogenheiten der Zielsprache anpassen. Oft sind es ganz kleine Nuancen, die aber eben doch den Unterschied machen, und bei denen man durch ein ganz bisschen Drehen an einem Schräubchen plötzlich viel mehr Authentizität bekommt. Eine alte Übersetzerweisheit lautet (etwas abgewandelt): Man muss die einzelnen Szenen nachtanzen können, dann funktioniert der Text.
Nur sehr wenige Verlage nennen die Übersetzerinnen und Übersetzer auf dem Cover. Wird nach Ihrer Ansicht den Übersetzerinnen und Übersetzern literarischer Werke zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt? Was würden Sie sich wünschen?
Ich glaube, da ticken wir Übersetzer:innen nicht anders als andere auch. Natürlich wünschen wir uns, gesehen und in unserer Arbeit gewürdigt zu werden. Auch sehe ich mich eben nicht als Dienstleisterin, sondern als Künstlerin: Ich schaffe ein fremdsprachiges Werk in meiner Sprache neu. Das hat sehr viel mit Kreativität und Menschlichkeit zu tun. Anschließend mit auf dem Cover zu stehen, wäre schlicht eine adäquate Anerkennung meiner Leistung. Einige Verlage machen das inzwischen ja auch schon. Ähnliches gilt übrigens auch für Rezensionen. Manchmal liest man ja begeisterte Pressestimmen, die sich gerade über die Sprache lobend äußern. Da denke ich dann oft: Ja genau, und das ist mein Verdienst. Wäre schön, das gewürdigt zu wissen.
In Zeiten von KI kann eine Frage nach ihrer Nutzung im Bereich literarischer Übersetzungen nicht fehlen. Nutzen Sie KI für Ihre Arbeit? Sehen Sie Ihren Beruf langfristig in Gefahr?
KI ist seit einer Weile ein großes Thema in unserer Branche, das natürlich auch Verunsicherung mit sich bringt. Was, wenn die Tools immer besser werden, was, wenn wir nicht mehr gebraucht werden? Umso wichtiger scheint mir, immer wieder den künstlerischen und menschlichen Faktor hervorzuheben, uns als Übersetzer:innen sichtbar zu machen und zu sagen: Seht her, das ist es, was uns ausmacht und weshalb es wichtig ist, dass Übersetzung, aber auch Sprache insgesamt, in unserer, in menschlicher Hand bleibt. Allein schon wegen der vielen Manipulationsmöglichkeiten, die diese ganzen Tools (auch politisch übrigens!) bieten. Das hat wieder mit der Verantwortung zu tun. Ich würde mal behaupten, KI hat kein Ethos, keine Moral, kein Verantwortungsgefühl. Wir dagegen schon, das macht uns als Menschen aus. Ich habe noch nie mit KI oder Sprachmodellen gearbeitet, es ist (bis auf Google-Recherchen) reine Handarbeit, und darauf bin ich auch ein bisschen stolz.
Was sind Ihre nächsten Projekte?
Derzeit sitze ich an einem Krimi, als nächstes kommt – tatsächlich! Sie dürfen sich freuen! – ein neuer Schulman.
Ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit!
Es war mir ein Vergnügen!
Rezensionen zu Büchern in der Übersetzung von Hanna Granz auf diesem Blog:
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